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"berührbar" - Der Weg zu einer Tanzperformance

 

Es ist der 4. Juni 2023. In zehn Minuten fängt der Auftritt an. Ich bin natürlich schon umgezogen, war noch ein letztes Mal auf dem Klo, habe meine in Weiß gewandeten Mittänzerinnen nah um mich, die sich alle auf ihre Weise die letzten Minuten vor dem Start vertreiben und denke an die zahlreichen tollen Menschen, die im Publikum sitzen und sehen wollen, was wir zu zeigen haben; was ich zu zeigen habe.  Es ist der zweite Auftritt, und die aufgeregte Stimmung unter uns Tänzerinnen hat im Gegensatz zum Vortag für mich eine ruhigere Qualität. Ruhige Aufregung. Ist das möglich? Ja. Widersprüche sind immer.

 

Ich trete als eine der ersten auf die Bühne und laufe, die Gesten der vor mir laufenden Person nachahmend, einmal diagonal nach vorne. So ganz bei mir bin ich noch nicht. Im Gegensatz zum Vortag beschäftigt mich die Frage, wer wo sitzt. Das kann ich nicht erkennen, da ich nicht in diese Richtung blicken darf und das Licht schließlich auf uns fällt. Ich versuche, Fokus zu finden. Yumi hilft mir durch ihre fesselnde Performance auf dem Tuch. Ich habe erst nach der Premiere so wirklich realisiert, dass sie die Bühne mit geschlossenen Augen betritt und dies minutenlang so bleibt, während sie von mehreren Menschen einzeln und zusammen getragen und hin- und hergereicht wird.

 

Vertrauen.

 

Ohne wäre dieses Stück undenkbar. Wie viel vertrauen wir jeden Tag? Wem vertrauen wir? Wo lassen wir uns fallen? Ich habe gelernt mich mit Freude fallen zu lassen. Mich in die Arme der anderen zu werfen. Rennen. Fallen. Freude ist auch anstrengend. Freude ist schön. Freude kann man nicht vergeuden.

 

„Wir alle fallen.“ – Ein sich wiederholender Satz im Stück. Von Rilke.

 

Fallen hat unterschiedliche Qualitäten. Freudig vertrauensvolles Fallenlassen, schmerzvolles Stürzen, begleitetes zu Boden gehen. Freude, Verzweiflung, liebevolle Unterstützung.

 

Unser Stück haben wir in nur 20 Stunden an 5 Vormittagen entwickelt. Dabei sind wir zwischendurch weniger geworden und es waren fast nie alle da. Erst bei der Generalprobez zwei Stunden vor der Premiere haben wir den ersten Durchlauf alle zusammen gemacht. Das Stück lebt von einer „Machen- Energie“. Die begrenzte Zeit komprimiert den künstlerischen Prozess auf das Wesentliche, das Pure, das Essentielle. In unseren Proben entwickelten wir mit Hilfe von eigenen und fremden Texten und tanzpädagogischen Übungen die Szenen. Es wurden Soli und Duette gefunden. Daran arbeiteten wir. Zwischen den Samstagen an denen wir uns trafen, bastelte Debby, unsere Leitung, weiter am Aufbau, verfeinerte, nahm Texte auseinander und gab uns Fragmente davon an die Hand, mit denen wir wieder weitermachten. Diese einzige Szene in der wir alle die gleichen Bewegungen machen konzipierten wir in 10min. Eine macht eine Bewegung, danach die nächste, danach die nächste. So schnell ist wieder etwas entstanden.

 

Die erste Grundlage für das Stück waren gemeinsam gesammelte Stichworte, was uns berührt. Es kamen sofort viele existentielle Lebensthemen auf. Aus all den Assoziationen traten Geburt, Tod, Verzweiflung, Aggressiver Blick, Umarmung besonders hervor.

 

Mit Partnerin kreierten wir abwechselnd ein Bild zu all den Worten. Eine stellt in einer Pose dar, was das Wort mit ihr macht. Die andere positioniert sich dazu. Dann Wechsel. Und wieder Wechsel mit einem anderen Wort und wieder Wechsel mit dem gleichen Wort. Danach einzeln, jede für sich. Sucht euch ein Wort aus, das ihr für einige Minuten am Stück tanzen werdet. Ich nahm den Tod. Der Tod zeigte sich mir vielfältig, in immer anderen Facetten. Das war interessant.  Schön war aber auch, dass ich danach durch eigene Impulse, Songtexte und Teile aus einem Gedicht von mir in die Freude, die Befreiung ging. Der erste Schritt muss immer getan werden. Und oft braucht es jemanden um mich herum, damit ich den Mut finde, ihn zu gehen. Energie mobilisiert und koordiniert sich in meinem Körper. Der erste Schritt bleibt Kampf. Der Rest läuft weiter.

 

Tragen, Halten, Umarmen, Blickkontakt, Gesten, Haut.

 

Aus der Berührung mit dem Sonnenlicht wurde eine Pose. Ein mit einem Tuch verhülltes Gesicht bedeutet sehr viel mehr als ein mit einem Tuch verhülltes Gesicht zunächst bedeuten mag. Jemanden zu Boden bringen muss nicht pathetisch aufgeladen sein. Du bist die Wolke, die fingerspitzenberührend hinter einem Menschen schwebt. Aus Kampf und Verfolgung wird Weisheit und Versöhnung. Ein Band schafft Nähe, schafft Abhängigkeit. Daraus wird Spiel, wird Körperlichkeit, Kontakt. Spannung. Anziehung, Abstoßung. Gravitationskräfte. Nicht enden wollende Energie. Erde.

Die Anspannung vor der Premiere ist mit Händen zu greifen. Tage vorher habe ich die Fetzen der Musik im Ohr, durchlaufe ich mental meine Positionen, meine Aufgaben, meine Schritte und versetze mich in Gefühle, die transportiert werden wollen. Hochkonzentriert sprechen wir bis eine halbe Stunde vor Auftritt nochmal alles der Reihe nach durch. Mit letzten Anmerkungen und Korrekturen, bis Elmo, der das Licht für uns macht, mal eindringlich sagt, wie viel Uhr es ist.

 

Ich liebe das. Die Momente vor Auftritten an denen das Adrenalin übernimmt. Das Gefühl mit anderen im selben Boot zu sitzen und uns auf den Wellen der Aufregung treiben zu lassen. Ich liebe den dann entstehenden Zusammenhalt. Die gemeinsamen Momente, die Nähe, das Miteinander Sein und Fühlen. Auch die Vorfreude auf genau das, hat mich da hingeführt. Es ist wie eine Choreografie für sich, all das was vor dem Auftritt stattfindet. Eine spontane Choreografie mit einigen bekannten Elementen. Ich werde auch zurückgeworfen in meine Jugend. Auf große Bühnen in Turnhallen mit hunderten Zuschauer*innen. Zeitpunkte an denen ich begann, ganz bewusst Emotionen zu zeigen.

 

Wie intelligent der Körper ist. Er führt mich in die aufgeregte Leere vor dem Sturm und weiß doch genau, was zu tun ist. Als ich dann zum ersten Mal mit dieser Gruppe auf dieser Bühne vor diesen Menschen stehe, die uns anschauen, erlebe ich einen Moment des Ankommens und der Stille. Der Rest ist ein schneller Rausch aus Ereignissen. Die Zeit tanzt mit mir. Zwischen Explosion und Implosion findet sie ihr Tempo.

 

4. Juni 2023, eine Minute nachdem die letzte von uns die Bühne verlassen hat. Wir stehen im Dunkeln, eng im Kreis und warten auf den Applaus. Er zeigt sich nach einer andächtigen Pause. Er fühlt sich warm an, herzlich. Danach stehen wir wieder hinten im Kreis. „Wollen wir schreien?“ sage ich? Nach ein paar Sekunden schreien wir alle zusammen. Das war laut.

 

Berührt. Genährt. Dankbarkeit für Gruppe. Für alle Anfänge und Enden, für all die sprudelnde Kreativität, das gemeinsame Commitment und die Schönheit, die all dem innewohnt.

 

„Komm spring auf,

auf meine Begeisterung

Sie nimmt dich Huckepack mit Wohlwollen

schleudert sie dich durch die Luft

bis alles nur und nur in Lachen aufgeht.“

 

Auszug aus meinem in die Performance eingearbeiteten Gedicht „Schimmerleuchten“.  

 


 

"berührbar"

 

Alle Fotos in diesem Blogbeitrag von Karl-Heinz Mierke

Künstlerische Leitung des Projekts: Deborah Manavi

 

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