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Orientierung

 

Orientierungscamp

Vergangenen Sommer durfte ich Teil der Orientierungswerkstätten am Tempelhof sein. Schloss Tempelhof ist eine Gemeinschaft von etwa 150 Menschen im Norden Baden-Württembergs. Es hörte sich spannend an, die Möglichkeit in einem mir nicht bekannten Format  zu erkunden, was es in meinem Leben und in der Welt braucht und wohin mein Herz mich trägt. Was mein Beitrag sein kann auf dieser Erde. Dies anders anzugehen,  als mir formalisierte Ausbildungsmöglichkeiten, Zertifikate und Stempel zu suchen. Zu begreifen, ich halte viel Wissen auch ohne dieses ganze Zeug in meiner Hand, meinem Kopf und vor allem meinem Herzen. Und tatsächlich. Der Raum war experimentell, offen, herzlich, tief und inspirierend. Es war für mich sehr ungewohnt, eine ältere Generation zu erleben, die  einlädt und den jüngeren wirklich zuhören will – An dieser Stelle möchte ich meine Eltern erwähnen, weil sie grundsätzlich für alle meine Ideen offen waren und sind, mir nie etwas vorschreiben wollten, meinen Weg akzeptieren, auch wenn sie vielleicht nicht alles davon verstehen oder selbst so getan hätten; danke Mama und Papa. – Ich weiß, dass es einigen Menschen in meinem Alter anders geht und war daher umso mehr in Freude darüber,  dass eine Gruppe älterer Menschen, die Unsicherheit und Suche der jungen wirklich mit tragen und begleiten möchte  und eben keine guten Ratschläge gibt, sondern eher noch um Verzeihung bittet, dass sie uns mit in die krisenhafte Lage auf unserer Erde gebracht haben, die wir wiederum tragen müssen. All das hat Erstaunen hervorgerufen, Freude und Liebe.

 

 

Hier in diesem Video von „Filming for Change“ ein paar Stimmen von Alt und Jung aus dem Camp:

 

 

https://vimeo.com/454047640

 

 

Was ich mitnahm

Seitdem hat sich vieles in meinem Leben verändert. Ich wage es, selbst eine Gemeinschaft mit aufzubauen, was mich momentan jeden Tag aufs Neue wieder sehr herausfordert. Mit all meinem Wissen darüber stecke ich noch in den Kinderschuhen und doch habe ich das Gefühl, etwas gestalten zu können, das sich lebendig anfühlt. Während des Orientierungscamps, das für Menschen zwischen 18 und 28 ausgeschrieben war (ich war 27 und damit am Rand der oberen Altersgrenze) merkte ich zum einen, wie sehr ich selbst immer noch auf der Suche war  - und immer noch bin und ich überzeugt bin, dass sie nie aufhören wird  - und bekam zum anderen einen kleinen Eindruck davon, wie viele Kräfte und Energien für ein anderes zwischenmenschliches Miteinander und „neue Lebensformen“ in solchen Räumen beginnen können, zu keimen. Die zentrale Frage, die meine Generation, die Genration der jüngeren, sich stellt und stellen muss ist, wie sich ein Wandel in unserem Denken und Handeln etablieren kann, der unseren Lebensraum schützt und ihm dient, statt ihn auszuräumen und sich von allem abzutrennen, was mich persönlich umgibt. Mich wieder fühlend und als Teil des Ganzen zu begreifen anstatt abgestumpft und hinter Masken versteckt, ein isoliertes, unverbundenes Leben zu führen.

 

Meine Suche

In meinem eigenen Leben habe ich gemerkt, wie sich ein tiefes Inneres immer wieder gesträubt hat einen gesellschaftlich anerkannten, „normalen“ Lebensweg zu gehen. Doch auch dies war ein Prozess. Ich machte Abi und hinterfragte in der Schule sehr wenig das System, war einfach sehr gut erzogene Mitläuferin. Ich nahm mir danach erstmal ein Jahr Zeit um ein passendes Studium zu suchen – andere stürzten sich gleich in irgendwas - und stand wie viele meiner Generation vor einem Meer aus Möglichkeiten. Eine Möglichkeit kam mir dabei wenig in den Sinn:  Nicht zu studieren, denn ich hatte ja Abi gemacht und das wurde einfach nicht hinterfragt. Nach dem Studium war ich nicht wirklich überzeugt von den Methoden der Wissenschaft und begann mehr und mehr mich aus dem Mainstream herauszuschälen. Ich war mit einer guten Freundin ein halbes Jahr in Neuseeland - in meiner Generation ziemlich Mainstream doch WIE wir es machten war (hoffe ich) etwas weniger Mainstream - und wurde nach der Rückkehr erstmal depressiv, weil ich keinen Job fand und nicht wusste, wohin mit mir. Und diesen Job fand ich erstmal nicht, weil der Bewerbungsprozess mir zutiefst wiederstrebte. Von vorne bis hinten betrachtete ich diese Vorgänge als Heuchelei und Verkleidung. Buchstäblich durch das Bewerbungsoutfit denn ich trage NIE Hemden, Blazer und Schminke -und im übertragenen Sinne, denn ich sollte nur meine „Schokoladenseite“ präsentieren. Es fehlten für mich, die Themen zu behandeln, die wirklich relevant sind, um gut miteinander arbeiten zu können oder einen echten Einblick davon zu bekommen, wen man vor sich hat. Es erinnerte mich an einen Verkauf. Ich verkaufe meinen Lebenslauf dem meistbietenden Arbeitgeber. Warum tun die meisten Menschen das so unhinterfragt? Lebensläufe zu schreiben macht keinen Spaß. Ich kann gut schreiben und meine damalige Chefin in meinem „ersten richtigen Job“ erzählte mir, dass sie noch nie ein so gutes Anschreiben gelesen hatte. Dennoch empfand ich das alles als nicht authentisch. Überhaupt empfinde ich all diese standardisierten Vorgänge in unserer gesellschaftlichen Realität als hinderlich, weil sie oberflächlich sind und mir kein echtes Bild von der Person geben können.

 

Lebenswirbel

Erst gestern bin ich in einem online Oya Artikel auf eine kreative Person gestoßen, die ihren Lebenslauf begann, anders zu visualisieren und sogenannte „Lebenswirbel“ daraus zu machen. Denn: So gerne unsere Zivilisation alles in gerade verlaufende, lineare und gut ausrechenbare Systeme pressen will – so funktioniert das Leben nicht. Unser Lebensweg ist voll mir Kurven, die wir nehmen, Kreisen, die wir drehen, Sackgassen, die wir überwinden müssen und kalten Flüssen durch die wir waten, um zu neuen Erkenntnissen zu gelangen.

 

 

Hier der Link zum Artikel mit den Lebenswirbeln:

 

 

https://oya-online.de/article/read/2666-lebenswirbel_statt_lebenslauf.html#   

 

 

Ich war also sehr frustriert und wusste nicht, wohin ich gehörte, was ich wollte und wo mein Platz war. Ich hatte Ideen und war doch völlig gelähmt und antriebslos. Auf dem Weihnachtsmarkt für eine große Kette hässliche Engel verkaufen und in Schichtarbeit an einer Saunakasse sitzen und Däumchen drehen (irgendwo musste ja Geld herkommen) machte die Situation nicht besser. Ein paar Lichtblicke verschaffte ich mir zwar immer, denn ich hatte hinter der Kasse Zeit, meinen Lyrikband zu entwerfen, doch es blieb zermürbend. Endlich dann fand ich einen projektbezogenen Job im sozialpädagogischen Bereich (nur in Teilen mit meinem Studium verwandt) mit einem jungen, dynamischen Team und spannenden Reisen in andere soziale Blasen und europäische Länder. Ich begleitete junge arbeitslose Menschen – welch Ironie.  Ich interessierte mich mehr für den (inter)kulturellen und pädagogischen Teil der Arbeit als für den Teil, in dem ich mich mit Arbeitsagentur und Jobcenter auseinandersetzen und versuchen musste, Menschen in einen Arbeitsmarkt zu integrieren, dessen Aufmachung ich immer mehr in Frage stellte. Dilemma. Widersprüche aushalten. Zudem saß ich innerhalb eines Jahres 10x im Flugzeug und realisierte: Mit meinem Bewusstsein darüber, wie schlimm  Fliegen für den Planeten ist, ließ sich das auf mein Gewissen bezogen auch nicht so leicht ertragen. Nun denn, der Vertrag war befristet und ich ließ ihn auslaufen. Ich hatte sehr viele wertvolle Erfahrungen mit Menschen gemacht und war wieder mehr auf dem Weg zu mir selbst, nächstes Ziel: Eine nächste Reise. Ohne Fliegen. Und ausgerechnet während eines „Unterbrechens“  dieser Reise – als ich für eine Zeit wieder in Deutschland war – stieß ich auf Gemeinschaft. So viel zum Thema kurvige Wege. Und folgte von da an diesem faszinierenden Kosmos.

 

Und jetzt?

Worauf will ich in diesem Text hinaus? Ich möchte darauf hinaus, dass ich viel aus meinem eigenen Lebensweg ziehen kann, um Menschen, die sich jetzt die Frage stellen, was sie nach der Schule machen davon zu erzählen und Ansätze zu geben, wie man sich bilden kann, ohne dies in formalisierte Abläufe zu zwängen. Ich interessiere mich wirklich sehr für das Themenfeld der freien Bildung – möchte mehr noch über Möglichkeiten dazu erfahren, die ich nach der Schule noch nicht kannte. Und ich selbst tue derzeit nichts anderes als mich frei zu bilden. Ich baue eine Hofgemeinschaft auf, ohne es je zuvor gemacht zu haben und bekomme das nicht in irgendwelchen Seminaren vorgekaut. Ich mache. Ich eigne mir Büroadministration an, ich lerne mit Kommunikations-und Arbeitstools eine Organisationsstruktur für eine Gruppe zu entwickeln, ich lerne soziokratisch zu entscheiden, ich habe mitgeholfen eine Infrastruktur auf einer völlig verlassenen Hofruine aufzubauen und wieder belebbar zu machen, habe in einem Crowdfundingfilm eine Stimme gespielt und pflanze ein paar von tausenden Bäumen, für die wir Geld eingesammelt haben. Ich beobachte und gestalte Gruppenprozesse, suche Prozessbegleitung, moderiere, lerne über alternative Ökonomieformen, Rechtsformen….will einen Market Garden mit aufbauen und lernen, Gemüse anzubauen. Fast alles ist neu für mich. Und doch entsteht es, ohne mir davor eine schriftliche Absolution einzuholen, dass ich dafür „offiziell qualifiziert“ bin. Ich bin so stark intrinsisch angetrieben wie nie zuvor in meinem Leben und habe mehr Sinn in meinem Tun entdeckt. Ich baue Ängste ab, dass ich keinen Platz im System finde, weil ich merke, dass der Platz im System gar nicht mein angestrebtes Ziel ist. Natürlich kann ich Scheitern, hadern, zweifeln und frustriert sein. Abe ich weiß ich bin auf meinem selbst gewählten Weg und zwinge mich nicht, diffuse Ansprüche zu erfüllen, die außerhalb meiner selbst liegen.  Diese neu entdeckte Selbstwirksamkeit wünsche ich von Herzen allen Menschen. Und wenn ich meinen Teil dazu beitragen kann indem ich mir wie so oft meine Gedanken aus der Seele schreibe, dann mache ich das gerne. Ich bin gespannt, wie mich das Thema der feien Bildung weiter in meinen Lebenswirbeln begleiten wird und was ich daraus mache.    


Zufällig gefunden bei einer Wanderung im Schnee
Zufällig gefunden bei einer Wanderung im Schnee

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