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Erlaube dir deine Tränen

 

 

 

“And if you close your eyes now
You can keep the world out
And if you close your eyes now
You can keep it spinning around

 

 

 

When I'm lost in the woods
When the darkness is coming
The storm is all around
Can you hear me cry?
If I'm lost in the woods
When the darkness is coming
The storm is all around”

 

 

 Mighty Oaks – Storm

 

Alles fühlt sich gerade etwas dumpf an. Ich bin traurig. Nach einer Qi Gong Einheit zwar wieder mehr mit friedlicher Leere im Kopf, aber die Traurigkeit im Herz ist geblieben. Gestern habe ich mir diverse Videos und Podcasts zu der Flut in Westdeutschland angeschaut und angehört. Das hat mich sehr betroffen. Wieder ein großes Trauma mehr, wieder eine Wunde mehr auf diesem Planeten. Dieses Mal physisch wesentlich näher dran als diverse Tsunamis in Japan oder Öltanker im Pazifik.

 

 

2017, im Frühjahr, besuchte ich ein Festival namens „Evolve“, in Neuseeland. Dort ging ich zu einem „Kurs“, der in meiner mittlerweile sehr verschwommenen Erinnerung eine Art Austausch zum Thema „grieving for the earth“ beinhaltete. Das bedeutet übersetzt in etwa: „Um den Schmerz der Erde trauern“, „Kummer für und mit der Erde“ erleben. Ich weiß noch, dass ich damals sehr wohl interessiert war, was diese Menschen dort erzählten und zugleich befremdet, weil das ein Teil von mir zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht integrieren konnte. Wie, mit der Erde trauern? Das war abstrakt, nicht greifbar. Ich konnte die tiefere emotionale Verbindung zu dieser Tätigkeit überhaupt nicht eingehen, selbst obwohl ich das kognitiv verstand und irgendwie „spannend“ fand. Deswegen bin ich dann auch doch früher aus dem Kurs gegangen, um mir noch andere Sachen anzuschauen, die mir vielleicht zugänglicher wären. Nun habe ich mich über 4 weitere Jahre entwickelt und kann mittlerweile das, wovon ich 2017 noch abgespalten war, besser leben und erfahren. Ich kann und möchte mich, auf Gefühlsebene, mit der Erde unterhalten und mit all dem Elend gehe ich auf vermehrt Konfrontationskurs.

 

 

Heute Morgen erwachte ich mit leicht verstopften Ohren. Dieses Phänomen hatte ich vor ein paar Wochen schon einmal, als ich Sachen mitbekam, die ich als schmerzvoll empfand. Ein Teil von mir will das nicht (mehr) hören. Schmerz, Leid, Katastrophe, Krieg, Verwüstung, Vergiftung. Es ist der Versuch, die Sinne wieder auszuschalten und mich zu verschließen - mich ins Unterbewusstsein zu retten. Andere Anteile in mir ringen aber darum dem allen in die Augen zu sehen, ohne dabei kaputt zu gehen. Eine Arbeit und Selbsterfahrung, die mich, auch durch die Verkörperte Ökologie Fortbildung, die ich seit Mai mache, zumindest auf den Weg bringt. Während ich Bilder sah stellte ich mir vor, wie es wohl sein muss, Menschen, die man kennt, auf Dachstühlen in den Fluten vorbeitreiben zu sehen. Stelle mir vor, wie sehr die Erde nun erneut vergiftet wird. Durch jede Menge Elektronik, Farben, Lacke, Öl, Batterien und Akkus, Plastik, Abwasser, Medikamente, giftige, nicht abbaubare Baustoffe zur Dämmung von Dächern. Alles untereinander und mit Schlamm vermischt, im Wasser, in der Luft, bald im Boden. Alles eins und völlig unkontrolliert auf die Natur losgelassen von der wir leben. Es ist furchtbar. Es ist ekelerregend. Sowohl für die Menschen, als auch für die Umwelt. Nein, für alle. Weil alle eins sind. Aber das wollen wir ja immer noch nicht an uns ran lassen. Tausende Menschen, die gerade im Schockzustand anpacken und aufräumen und die wohl in ein paar Wochen, wenn der Schock schwindet, traumatisiert zurückbleiben.

 

 

In den Narrativen der Reportagen und auch den Interviews mit Betroffenen machte ich dabei noch folgende Beobachtung: Sehr oft wurde davon gesprochen, dass diese Menschen ihre Existenz verloren haben. Gleichzeitig Erleichterung bei vielen, überhaupt noch am Leben zu sein. Die Existenz jedoch war in jedem Fall irgendwie an ihren materiellen Besitz in Form eines Wohnhauses und/oder Firmengebäuden gebunden. Das ließ mich Aufmerken und den enormen Nachteil unserer Sesshaftigkeit, zu der wir uns hin entwickelt haben, im Scheinwerferlicht sehen. Wir knüpfen unsere Existenz, (Synonym für Existenz: Vorhandensein, Dasein, Sein, Bestand) ganz eng an unseren Haus-/Orts-/Grundstücksbesitz. Genaugenommen haben alle Überlebenden nicht ihre Existenz verloren. Sie sind nach wie vor. Vermutlich seelisch und körperlich stark verwundet aber sie sind. Doch scheinbar fühlen sie sich nicht mehr so als seien sie noch, weil sie ihren Besitz verloren haben. Im Umkehrschluss: Wir definieren uns sehr stark über unseren Besitz. Diese Erkenntnis ist nun nicht neu, aber trat mir durch diese sich häufenden Kommentare nochmal scharf ins Bewusstsein. Und schon überlegte ich, ob es nicht doch besser wäre, meinen persönlichen Besitz auf 2 Rucksäcke zu begrenzen um mich in den nächsten Jahrzehnten immer dorthin zu bewegen, wo die Zerstörung noch nicht allumfassend gewütet hat. Ich fragte mich, ob es erst einen großen Teil der Menschheit erwischen muss, damit der Rest der überlebt, wieder genug Platz hat, sich nomadisch zu bewegen, so wie früher. Oder welche Form der Bewegung sonst dienlich sein könnte. Das Errichten von metaphorisch gesprochen, Schlössern und Burgen, die über hunderte Jahre halten erscheint mit den rasanten Veränderungen, die der Klimawandel mit sich bringt, total absurd. Können wir überhaupt noch an Flüssen siedeln? Das sind Fragen, die nun, im Nachhinein, wo uns eine Katastrophe mal wieder wachrüttelt, gefragt werden. Die Fähigkeiten, für mehrere menschliche und nicht menschliche Generationen vorauszudenken, sind durch die Flut der Moderne weggeschwemmt worden, so scheint es mir. Und wo gehen jetzt all die Leute hin, die berechtigterweise keine Lust mehr haben wieder 10 Jahre aufzubauen, damit innerhalb von 24 schicksalhaften Stunden alles erneut dem Erdboden gleichgemacht wird? Binnenflüchtlinge?! In Deutschland?! Nicht abwegig…

 

 

Wie kann ich mein Leben gestalten, ohne mich über Besitz zu definieren und dadurch schlimme, einschneidende Verluste zu erfahren, die meine Existenz maßgeblich bedrohen? Ist das überhaupt möglich? Wie würde es sich anfühlen, wenn das, was ich nun mit einer Gemeinschaft aufbauen will - selbst wenn wir die Gebäude in Gemeingut überführen und sie nutzen statt besitzen - durch irgendein Ereignis zerstört wird? Wäre das anders? Ich glaube kaum, denn durch die Sesshaftigkeit haben wir ja ein definiertes Zuhause. Die noch eindringlichere Frage lautet: Was gibt mir Sicherheit, wenn ein Ort mir diese nicht geben kann? Ist Sicherheit eine vollkommene Illusion, in der wir uns wiegen, um überhaupt überlebensfähig zu sein? Das Neugeborene erfährt Sicherheit durch häufigen direkten Körperkontakt, liebevolle Berührung, Aufmerksamkeit, Fürsorge und verlässliche Bindungspersonen und auch wir Erwachsenen erfahren, wie sich unser Nervensystem durch Berührung, Liebe, Zuwendung und Empathie reguliert. Und da geht mein Forschungsweg gerade hin. Geld bietet mir, wenn überhaupt, nur noch eine Scheinsicherheit. Wie verworren und ausweglos das mit dem Besitz ist, sieht mensch anhand der obigen Gedanken. Es ist also mein Ziel, so viel wie möglich soziale Sicherheit zu generieren und ich habe keine Ahnung, ob das was wird und das bewirkt, was ich mir erhoffe. Dennoch möchte ich aus dieser Absicht heraus handeln. Ich bin der Überzeugung, dass wir das nur zusammen schaffen und ich wäre beglückt, wenn ich diese Form der Kooperation nicht nur in verwüsteten und völlig geschockten Momenten der Menschheit erleben würde, sondern im Alltag. Wenn nicht mehr die Dinge "vergöttert" werden, sondern unsere lebendigen Beziehungen das "Must BE" sind. Das ist einer meiner Träume. Der sich auch in diesem Zitat von unbekannt äußert:

 

 

“People were created to be loved. Things were created to be used. The reason why the world is in chaos is because things are being loved and people are being used."  

 

 

Was fang ich also mit meinem Schmerz an? Ich begebe mich mit Menschen gemeinsam in dafür intentional geschaffene Räume. Menschen, die es auch wagen wollen, den Schmerz an sich heranzulassen und als integralen Bestandteil ihres Seins zu spüren. Ich nehme dort und auch für mich allein buchstäblich Kontakt mit der Erde auf, indem ich mich immer öfter auf den Boden lege und möglichst viele Körperteile mit diesem in Berührung gehen. Das geschieht auch häufig durch die Ausdrucksform Tanz und anders formuliert:

 

 

Immer, wenn ich verzweifelt bin. Wenn ich nicht weiß, wie es weitergeht. Wenn ein Druck in mir aufsteigt. Immer dann, fange ich mittlerweile an zu tanzen. Dann schmeiß ich mich auf den Boden, um der Erde ganz nah zu sein, die mich trägt – jeden Tag trägt. Suche Kontakt, Kontakt, Kontakt. Bin auf der Suche nach Wahrnehmung und Spüren, damit auch das was in mir ist Gestalt annehmen kann; im Spiegel all dessen, was mir begegnet.

 

Dann bin ich dankbar für alle Menschen, die mich haben in ihre Augen sehen lassen. Dann bin ich dankbar für alle Tiere und Pflanzen und Steine, die meine Anwesenheit friedlich akzeptieren, obwohl ich so viel Schaden anrichte. Dann bin ich dankbar, wie glimpflich ich in dem Wirbel aus Katastrophen bisher davongekommen bin - doch oft genug schmerzt mich sogar das. Es hilft ein bisschen. Auf jeden Fall habe ich erkannt, dass es gesünder für mich ist, wenn ich nur irgendeinen Ausdruck für dieses Innenleben finde. Und ich daraus schlussfolgere, dass es uns kollektiv helfen könnte, wenn wir wieder Raum für unsere Gefühle und Emotionen haben und es einem nicht peinlich sein muss zu weinen. Und man sich dann verantwortlich fühlt zu verbalisieren, dass einem ja jetzt sogar mal die Tränen kommen müssen – ausnahmsweise. Und sie mit dieser Aktion sofort wieder wegdrückt und sich ihrer Kraft verwehrt. Erlaube dir deine Tränen! Aus den Tränen wächst Liebe für das Leben.

 

 

Grieving for the earth

 

 

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Kommentare: 2
  • #1

    Tami (Dienstag, 03 August 2021 22:59)

    Wie wunderbar geschrieben! Danke dafür. Das sind genau meine Gedanken. Mich erfasst eine tiefe Traurigkeit den Menschen, aber auch unsere Erde gegenüber. Und in letzter Zeit weine ich oft, wenn ich mit dem Hund durch den Wald streife. Manchmal vor Demut und Dankbarkeit für das Sein. Mein Sein. Das Sein all der Geschöpfe um mich herum. Manchmal aus einer zu tiefst empfundenen Trauer darüber zu begreifen, was gerade mit unsere Erde passiert. Nochmals Danke für deine Zeilen und weiterhin von Herzen alles Gute auf deinem Weg.

    Dazu fällt mir das Zitat von Antoine de Saint Excupéry ein:
    "Geh nicht glatte Straßen. Geh Wege, die noch niemand ging, damit du Spuren hinterlässt und nicht nur Staub."

    Du scheinst auf einem guten Weg zu sein ;)

    Liebe Grüße aus der Waldstadt, Tami

  • #2

    Mira (Donnerstag, 05 August 2021 19:18)

    Hallo Tami,
    schön, dass du nach wie vor meinen Blog liest und ich Worte dafür finden und aufschreiben kann, die auch andere Menschen bewegen! Ich glaube immer mehr Menschen geht es so und letztlich ist es ein gesunder Trauerprozess, der innerhalb all diesen Zerfalls richtig wichtig ist, gelebt zu werden!
    Danke also auch für deine Tränen!
    Lieber (nostalgischer) Gruß in die Waldstadt zurück!
    Mira